Vorher – Nachher

Als Jugendlicher haben mich die Diät-Berichte in den einschlägigen Magazinen interessiert: Vorher 130 Kilos, nachher 75 Kilos. Mein Fokus lag auf den Vorher-Bildern. Und meine Vorstellung lief andersherum: Vorher 130 Kilos – nachher viel, viel schwerer. Mit Lust und Genuss. Seither habe ich es vielfach selbst geträumt, selbst gezeichnet. Hier einmal mehr.

Vorher

… und dann verging einige Zeit, bis ich sie wieder sah. Was wohl der Grund war? Ob sie ein Jahr im Ausland war? Oder ob ich sie im Urlaub gesehen hatte – und erst ein Jahr später wieder in der gleichen Gegend war? Ob sie in der fernen Stadt arbeitet – in der ich selten bin, sie aber sofort wiedererkannt habe nach langer Zeit?

Wie auch immer – was ich sah, war prachtvoll…

Die Touristin

Man hätte sie für eine gewöhnliche Touristin halten können, sicher: für eine überaus dicke und runde Touristin, wie sie mit Sonnenbrille, leichtem Kleid, Tasche und Wurstsemmel langsam durch die Straßen der fremden Stadt spazierte.

Sie genoss, dass niemand es ihr ansah, mit welchem Interesse, in welcher Mission sie unterwegs war. Ja, die Kirchen, Bürgerhäuser und Museen. Die ließ sie links liegen, waren nur von mäßigem Interesse für sie. Anders hingegen die Imbisse, Subways, Döner-Stände und Eisdielen: Orte des Genusses und der Begierde. Sie kam in die fremde Stadt, um zu schlemmen, zu futtern. Begann am Bahnhof mit einer großen Tüte Pommes, ging langsam und kauend durch die Fußgängerzone ins Zentrum, warf die leere Tüte weg, sah eine Eisdiele. Nahm sich eine große Waffel mit vier Kugeln und Sahne. Und schleckte das Eis und genoss. Eben die Waffel verdrückt, zeigte sich da ein Falaffelstand. Einmal die große Portion mit Rahmdipping. Sie stand und schlemmte. Und machte sich weiter auf den Weg. Der Duft aus der Bäckerei zog sie hinein. Mit drei schokoladenüberzogenen Granatsplittern kam sie heraus, die nach und nach in ihrem Mund verschwanden. Dann der Würstchenstand, eine lange fettige Thüringer Bratwurst. Und wieder vier Kugeln Eis. Ihr Gang wurde langsamer und schwerer, das Kleid enger, der Bauch immer strammer – bis sie sich schließlich, nach drei Stunden gefräßigen Stadtbummels, beim Mexikaner niederließ und „endlich etwas Gescheites“ bestellte, wie sie sagte: Nachos mit Käse als Entrée. Und dann vier Burritos, Pommes und eine Cola.

Nahezu jedes Wochenende war sie so unterwegs, oft in einer anderen Stadt. Diese Schlemmertage ließen unübersehbare Spuren an ihrem weichen, dicken und schweren Körper. Andere machen Bodybuilding, dachte sie… ich auch. Und strich sich über die vielen neuen angefutterten Pfunde.

Unfassbar…

Julia steht am Spiegel, probiert ihr neues selbstgenähtes Kleid aus.
Jürgen kommt dazu, sagt zu Julia: Du bist eine unfassbare Frau!
Julia zu Jürgen: Wie meinst Du das?
Jürgen: Rein mental: Deine Ideen, Deine Gedanken, Deine Klugheit, Dein lebendiger Geist.
Julia, fast enttäuscht: Ach so. –
Da fasst sie Jürgen am Bauch und am Po: Auch so natürlich, Du Dickmadam. Ich komme ja schon lange nicht mehr um Dich herum – unfassbar!

Vorbauten

– Du hast ja einen wunderschönen Vorbau, sagte er. Sie errötete.
– Oh, sorry, ich weiß, das klingt hart, ich meine es aber gar nicht abwertend.
– Nein, sagte sie, ich finde es schön, wenn Du es so sagst, so… robust. Ich mag das.
Sagte es – wurde gleich nochmals rot, und ergänzte: …

– Du solltest dann aber meine ältere Schwester sehen. Die hat neulich selbst gesagt, sie habe einen gewaltigen Vorbau. Wenn ich zur Tür reinkomme, hat sie gelacht, sieht man erst nur meinen Vorbau.
– Hast Du ein Bild von ihr? Er war neugierig.
– Hier kannst Du sie sehen. Neulich im Strandbad. Sie zeigte ihm ihr Handy…

Nun war es an ihm zu erröten.
– Wahnsinn, was für ein Vorbau…
– Ich habe es Dir gesagt!

Aber bitte mit Sahne…

Nachdem sie Liliane hieß, war es unausweichlich, dass sie den Refrain schon früh nachgesungen bekam: … aber bitte mit Sahne. Als Kind, sagt sie, habe sie die Ironie nicht verstanden, später wollte sie sie nicht mehr verstehen: Fast alles, was sie aß, reicherte sie mit Sahne an.

Kleine Dame, nannten ihre Großeltern sie, und ließen sie in Sahne schwelgen. Sich damenhaft anzuziehen, Bluse und Rock, sich damenhaft zu benehmen, das lag ihr. Und früh schon entwickelte sich ihre Figur damenhaft: rund und üppig. Schon im Studium zelebrierte sie mit Freundinnen das von Udo Jürgens überlieferte Ritual:

Sie treffen sich täglich um viertel nach drei
Am Stammtisch im Eck in der Konditorei
Und blasen zum Sturm auf das Kuchenbuffet,
Auf Schwarzwälder-Kirsch und auf Sahne-Baisser,
Auf Früchteeis: Ananas, Kirsch und Banane – aber bitte mit Sahne.

Die Folgen waren unübersehbar – und gewünscht. Sahne prägte Lilianes Leben: Buttercremetorte und Bienenstich, Mascarpone und Mohrenkopf, Pesto mit Sahnesauce und Tiramisu, Knödel mit Pilzrahmsauce und kugelweise Eis mit doppelter Portion Sahne. Und hin und wieder der legendäre Nutella-Cappu: Ein Glas Nutella mit Sahnehaube. Sahne prägte Lilianes Figur.

Sie war längst fertig mit dem Studium, arbeitete als Anwältin; das Ritual behielt sie bei. Vor einigen Jahren ging der alte Bäcker in den Ruhestand – und ein junger Konditor übernahm. Liliane brauchte es ihm nur einmal zu sagen: … aber bitte mit Sahne! Aufmerksam, unaufdringlich und stetig versorgte er sie mit reichhaltiger leckerer Sahne in allen Variationen. Bald funkte es zwischen den beiden. Und bald musste der von Udo Jürgens im anderen Kontext bekannte Pfarrer aktiv werden:

Und der Pfarrer verheiratete die beiden mit rührenden Worten:
Daß der Herrgott den Weg in den Ehehimmel ihnen bahne,
aber bitte mit Sahne – für Dich, Liliane.

Dass ihr die Ehe gut bekam, war unübersehbar. Siehe unten.

Sektempfang

Beim Sektempfang. Sie schloss ihre Augen und errötete. Warum?

Vielleicht, weil ihr Blick im Moment auf das üppige Buffet gefallen war, und sie sich vorstellte, wie sie gleich zuschlagen würde, sich nah am Buffet positionieren, alle Köstlichkeiten probieren, hemmungslos schlemmen, die Blicke der anderen spüren, die abfälligen, aber auch die staunenden, bewundernden… Ja, ihre Buffetplünderungen waren legendär.

Vielleicht, weil sie Ihn eben wieder erblickt hatte. In ihrer Position war es ihr leicht gefallen, eine Einladung zu erhalten. Weder das Thema noch die Menschen hier interessierten sie wirklich – nur er. Inhaber einer Bäckereikette, erfolgreich, orientierte das ganze Unternehmen an Nachhaltigkeit und Regionalität – und arbeitete, das war ihr sofort aufgefallen, mit auffallend vielen üppigen und dicken Angestellten. Seitdem sie ihn vor einem halben Jahr zum ersten Mal getroffen und gesprochen hatte, wollte sie seine leitende Angestellte werden. Ach was. Seine Chefin. Je nachdem.